Auszug aus Carlos Castaneda's "Lehren des Don Juan":

Der Weg zum Wissen und seine vier Feinde:

Furcht ist der erste natürliche Feind, den ein Mensch auf dem Weg zum Wissen überwinden muss… Wenn ein Mensch anfängt zu lernen, ist er sich über seine Ziele nicht klar. Sein Vorsatz ist schlecht, seine Absicht ist vage. Er hofft auf Belohnungen, die niemals eintreffen werden, denn er weiß nichts von den Härten des Lernens. Er beginnt langsam zu lernen — zuerst Schritt für Schritt, dann in großen Sprüngen. Und bald sind seine Gedanken durcheinander. Was er lernt ist nicht, was er sich ausgemalt hat, und so beginnt er sich zu ängstigen. Lernen ist niemals das, was man erwartet. Jeder Schritt des Lernens ist eine neue Aufgabe, und das Erleben der Furcht nimmt erbarmungslos und unnachgiebig zu. Sein Vorsatz wird ein Schlachtfeld.
Und so ist er über den ersten seiner natürlichen Feinde gestolpert: die Furcht! Ein schrecklicher Feind - tückisch und schwierig zu überwinden. Er bleibt an jeder Wegbiegung verborgen, lauernd, wartend. Und wenn der Mensch, erschreckt durch ihre Anwesenheit, fortläuft, wird sein Feind seine Suche beendet haben… So wird er niemals lernen, niemals ein Wissender werden. Möchte er dies, darf er nicht fortlaufen… Er muss seine Furcht besiegen, er muss ihr trotzen und den nächsten Schritt des Lernens gehen und den nächsten und den nächsten. Er muss nur aus Furcht bestehen, und doch darf er nicht aufhören. Das ist die Regel!
Und ein Moment wird kommen, wo sein erster Feind zurückweicht. Der Mensch beginnt, sich seiner selbst sicher zu sein. Sein Vorsatz wird stärker. Lernen ist nicht länger eine erschreckende Aufgabe. Wenn dieser glückliche Augenblick kommt, kann der Mensch sagen, dass er seinen ersten natürlichen Feind besiegt hat… Es geschieht allmählich, doch wird die Furcht plötzlich und schnell überwunden. Wenn ein Mann die Furcht überwunden hat, ist er für den Rest seines Lebens frei von ihr, weil er statt der Furcht Klarheit gewonnen hat - eine Klarheit der Gedanken, die die Furcht auslöscht…

Der zweite Feind auf dem Weg zum Wissen ist die Klarheit der Gedanken.
Sie ist schwierig zu erlangen, aber sie macht auch blind. Sie zwingt einen, sich niemals selbst anzuzweifeln. Sie gibt Sicherheit, alles zu tun, was einem gefällt. Man wird mutig und schreckt vor nichts zurück. Es ist aber ein Fehler, es ist wie etwas Unvollständiges…
Wenn der Mensch dieser vorgetäuschten Macht nachgibt, ist er von seinem zweiten Feind besiegt worden, und er wird mit dem Lernen spielen. Er wird eilen, wenn er geduldig sein sollte, oder er wird geduldig sein, wenn er eilen sollte… Um von diesem zweitem Feind nicht besiegt zu sein, muss man seiner Klarheit trotzen…

Der dritte Feind auf dem Weg zum Wissen ist die Macht, der stärkste aller Feinde.
Ein Mensch auf dieser Stufe bemerkt kaum, wie der dritte Feind ihn einkreist. Sein Feind wird ihn zu einem grausamen, unberechenbaren Menschen gemacht haben. Ein Mensch, der von Macht besiegt ist, stirbt, ohne wirklich gewusst zu haben, wie mit ihr umzugehen ist. Solch ein Mensch hat keine Gewalt über sich selbst und kann nicht entscheiden, wann oder wie er seine Macht anwenden soll. Ein Mensch ist nur dann besiegt, wenn er es nicht länger versucht und sich selbst aufgibt. Er muss einsehen, dass die Macht, die er scheinbar gewonnen hat, niemals wirklich sein ist. Er muss sich zu jeder Zeit selbst beherrschen und alles, was er gelernt hat, vorsichtig und ehrlich gebrauchen.
Wenn er sieht, daß Klarheit und Macht ohne Selbstbeherrschung schlimmer als Fehler sind, wird er einen Punkt erreichen, wo sich ihm alles fügt. Dann wird er wissen, wann und wie er seine Macht gebraucht…

Der vierte Feind, der grausamste, ist das Alter.
Ihn kann man nicht wirklich schlagen, sondern nur bekämpfen. Man bekommt ein Verlangen nach Ruhe. Wenn man dem Verlangen, sich auszuruhen und zu vergessen, völlig nachgibt, wenn man sich selber in Müdigkeit wiegt, wird man seine letzte Runde verloren haben, und sein Feind wird ihn zu einem schwachen, alten Geschöpf niederstrecken. Aber wenn der Mensch seine Müdigkeit abschüttelt und sein Schicksal zu Ende lebt, kann er ein Wissender genannt werden, wenn auch nur für den kurzen Augenblick, da es ihm gelingt, seinen letzten unbesiegbaren Feind abzuschütteln.
Dieser Augenblick der Klarheit, der Macht und des Wissens ist genug…